First Aid Highway
Wir fahren auf einen Waldparkplatz. Aus dem Wald ertönt ein Hilferuf. Schnell das Handy aus dem Tankrucksack rausholen und das Erste-Hilfe-Set mit den Handschuhen.
Was ist passiert? Ein junger Mann liegt an einer Böschung mit einer stark blutenden Wunde am Arm. Er hat Schmerzen und er zittert am ganzen Leib. Die Blutung muss gestillt werden, sonst verblutet er. Ein Kollege aus unserer Gruppe wird angewiesen, einen Notruf abzusetzen, ein anderer an die Straße zu gehen um den Rettungswagen einzuweisen. Er sei in eine Scherbe gefallen, kann uns der Verletzte auf unsere Nachfrage hin berichten. Wir müssen einen Druckverband anlegen. Einer hält den Arm hoch und drückt die Arterie ab, der andere legt den Druckverband an.
Während wir uns um den Verletzten kümmern, kommt plötzlich eine sehr aggressive junge Frau auf ihn zugelaufen und will ihm ans Leder. Schreit laut herum, was für ein mieser Typ er doch sei, und sie wolle ihn fertig machen. Motorradkumpel Christian hat alle Mühe die Frau fast gewaltsam von dem Verletzten fernzuhalten. Gut, dass wir zu mehreren sind. Zu allem Überfluss torkelt auch noch ein Besoffener auf uns zu, den Iris und Jörg in Schach halten müssen.
Der Verletzte friert, zittert und ist ganz blass. Schockzustand, also Beine hoch. Ich nehme seine Beine in Höhe meiner Hüften und halte sie die ganze Zeit oben, während Peter sich mit dem Verletzten unterhält. Ablenken und beruhigen soll man die Verunfallten, hatten wir einige Stunden zuvor in der Theorieeinheit gelernt. Wir befinden uns auf einem „First Aid Highway"- Lehrgang der Motorradstaffel Minden Ravensberg der Johanniter-Unfall-Hilfe.
Zehn Motorradfreunde unseres OWL-Stammtisches haben sich zu diesem Lehrgang angemeldet und treffen sich am Samstagmorgen um 8:30 Uhr bei der Johannitern-Unfall-Hilfe in Bad Oeynhausen, um die eingestaubten Erste-Hilfe-Kenntnisse aufzufrischen.
Viele der Teilnehmer hatten ihren letzten Erste-Hilfe-Kurs beim Führerscheinerwerb absolviert, was bei einigen vor über 40 Jahren war. Da mag die Hemmschwelle groß sein im Ernstfall tatkräftig zu helfen. Um so besser, wenn man sich dann entscheidet, einen Erste-Hilfe-Kurs zu besuchen.
Nachdem sich jeder Teilnehmer kurz vorgestellt und seine Vorkenntnisse und Erwartungen an den Kurs beschrieben hat, geht es los mit der üblichen Theorie über die lebensrettenden Sofortmaßnahmen. Aber es wird gar nicht so lang geredet, da liegen die ersten Teilnehmer bereits in der stabilen Seitenlage auf dem Boden.
In der nächsten Praxisrunde üben wir wie man einem bewusstlosen Motorradfahrer den Helm abnimmt. Die Halswirbelsäule muss immer auf Zug und gerade gehalten werden, da man ja bei einem Motorradunfall an eine Halswirbelsäulenverletzung denken muss. Das geht natürlich besser mit zwei Helfern. Allein ist es schwierig, aber auch möglich. Jeder Teilnehmer kommt dran, wird sowohl Helfer, als auch Opfer. Zur Stärkung gibt es zwischendurch Kaffee und belegte Brötchen.
Für die folgende Übung gehen wir nach draußen. Dort liegen vier Puppen im Viereck so auf einer Decke, dass vier Teilnehmer gleichzeitig die Herz-Lungen-Wiederbelebung durchführen können. Einer der Kursleiter steht mit der Stoppuhr daneben und gibt den Übenden immer wieder den Zwischenstand durch, wo sich der Rettungswagen gerade befindet und wie lange er noch braucht. Das sind im günstigen Fall etwa 8 Minuten. Und es wird so lange gepumpt und beatmet „bis der Arzt kommt".
Im Rhythmus von 30 Herzdruckmassagen mit einem Tempo von 120 Schlägen pro Minute zu 2 Atemstößen. Die Puppe zeigt an, ob man den Brustkorb tief genug eindrückt. Nach 4 Minuten brennen bereits meine Handballen vom Drücken und ich würde mich am liebsten daneben legen. Aber der Kursleiter feuert uns weiter an, so dass wir alle durchhalten. Denn Pause machen zwischendurch ist nicht. Trotz meiner Erschöpfung finde ich es gut, mal die Gelegenheit zu haben den Ernstfall zu testen.
Ausgestattet mit einem Verbandpäckchen geht es nun zu den Einsatzorten. Wir bilden einen Motorradkorso bestehend aus den 10 Teilnehmern und 5 Maschinen der Johanniter Motorradstaffel, die die Kreuzungen sperren, damit wir alle zusammen durchfahren können.
Wir sind gespannt, was uns erwartet, denn während unserer etwa 60 Kilometer langen Tour werden wir unterwegs an verschiedene Unfallorte kommen, an denen wir unser gelerntes Wissen praktisch anwenden müssen. Fünf Teams werden gebildet, die der Reihe nach dran sind. Und - das geht wohl jedem von uns so - bevor man selbst mit seinem Einsatz dran ist, hat man doch ein etwas flaues Gefühl in der Magengegend.
Aber man kann die ganzen „Gaffer", sprich die anderen Teilnehmer, zum Helfen mit einspannen. Zum Beispiel um den Notruf abzusetzen, die Unfallstelle abzusichern oder den Rettungswagen einzuweisen. Man sollte auch keine Scheu haben tatkräftige Hilfe von den Umstehenden einzufordern. Wichtig ist nur die klare Ansage, wer welchen Job übernehmen soll. Einer muss den Hut aufhaben und alle Maßnahmen koordinieren. Und das klappt von einem Einsatz zum nächsten immer besser.
Die Statisten der realistischen Unfalldarstellung machen ihren Job ganz hervorragend. Nicht nur, dass sie mit Kunstblut und Verletzungen geschminkt sind, sondern sie spielen fast schon filmreif. Man merkt, dass sie selbst „vom Fach" sind und wissen, was sie tun müssen, um uns eine realistische Darstellung zu liefern. Auch das fingierte Telefongespräch mit der Rettungsleitstelle wird sehr realistisch geführt. Die Leitstelle stellt Fragen wie bei einem echten Notruf, falls man selbst in der Aufregung eins von den 5 „W"s (Wo? Was ist passiert? Welche Verletzung? Wieviele Verletzte? Warten auf Rückfragen) vergessen hat.
Man merkt seine eigene Unsicherheit beim Einsatz sehr deutlich - und das besonders dann, wenn man als Helfer gar nicht viel tun kann. Wie wir gelernt haben, ist es jedoch bereits eine sehr große Hilfe für den Verletzten, wenn man einfach nur da ist und beruhigend mit ihm spricht bis der Rettungswagen eintrifft.
Für unsere Übung werden Geschichten erfunden von einem Suizidversuch mit Aufschneiden der Pulsadern, bis hin zur realistischen Darstellung eines Grillunfalls mit qualmendem Grill und drei Verletzten.
Als wir zum Ausgangsort zurückkehren, fallen plötzlich alle fünf Fahrer der Johanniter Motorradstaffel in Ohnmacht, so dass wir noch einmal die Gelegenheit haben, die Helmabnahme mit anschließender stabiler Seitenlage zu üben.
Nach jedem Einsatz wird ein Resümee gezogen, was wie gelaufen ist, wo es noch Verbesserungspotential gibt oder was man noch zusätzlich bedenken sollte.
Am Ende des Lehrgangs bekommt jeder Teilnehmer natürlich ein Zertifikat und auch noch eine leckere warme Suppe.
Alle Teilnehmer waren begeistert von dieser realistischen Art und Weise, wie man uns Erste Hilfe Maßnahmen vermittelt hat. Der Lerneffekt ist so wesentlich höher als beim üblichen Erste-Hilfe Kurs. Die wesentlichen Dinge bleiben einem viel besser im Gedächtnis. Die Scheu tatkräftig bei einem Unfall zu helfen, wird einem genommen. Da waren sich alle Teilnehmer einig.
Die regelmäßige Teilnahme an einem solchen Kurs kann man uneingeschränkt für jeden - nicht nur Motorradfahrer - empfehlen.
Gerade die geschlossene Teilnahme von Clubs ist in meinen Augen sehr sinnvoll, da man sich untereinander kennt und oft gemeinsam unterwegs ist. So kann man im Notfall als eingespieltes Team optimal funktionieren. Egal, ob es sich bei dem Verunfallten um ein Mitglied der Gruppe handelt oder ob man auf seiner gemeinsamen Tour zufällig an einem Unfallort vorbei kommt.
Ich habe für mich beschlossen, zukünftig alle zwei Jahre mitzumachen.
Wir danken allen Aktiven der Johanniter-Unfall-Hilfe (Lehrgangsleiter, Statisten, Helfer und Köche) für ihren wohlgemerkt ehrenamtlichen Einsatz, uns einen sehr lehr- und erlebnisreichen Tag zu bescheren, den wir so schnell nicht vergessen werden.
Für alle Interessierten hier der Link zum First Aid Highway der Motorradstaffel Minden Ravensberg der Johanniter-Unfall-Hilfe: https://www.johanniter.de/kurse/erste-hilfe-kurse/spezialangebote/erste-hilfe-fuer-motorradfahrer/erste-hilfe-fuer-motorradfahrer-in-minden-ravensberg/
Vieleicht hast du auch Interesse an solch einem Training für Motorradfahrer teilzunehmen?
Auf unserer Seite "Notfalltraining" https://bvdm.de/aktuelles-und-veranstaltungen/notfalltraining/ gibt es eine Liste mit allen uns zur Zeit bekannten Anbietern solcher Erste Hilfe Kurse in Deutschland.